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Unesco-Dekade

Der Bildungsauftrag der Agenda 21

Gliederung dieser Seite

Kapitel 36 der Agenda 21: Bildung als Möglichkeit der Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung

„Bildung / Erziehung, öffentliche Bewusstseinsbildung und berufliche Ausbildung stehen mit fast allen Programmbereichen der Agenda 21 in Verbindung.“ (Bundesumweltministerium 1992, S. 261) Bildungsaufgaben werden in fast allen Kapiteln der Agenda 21 explizite als Umsetzungsmöglichkeiten angesprochen. So enthält das Kapitel 3 „Armutsbekämpfung“ die Maßnahme: „den Armen Zugang zum Primar-Erziehungswesen zu verschaffen.“ (ebd., S. 20) Im Kapitel 9 „Schutz der Erdatmosphäre“ wird u.a. vorgeschlagen, Maßnahmen zur Aufklärung und Bewusstseinsförderung „zum Thema sparsame Energienutzung und umweltverträgliche Energieträger“ zu fördern (ebd., S. 70).

Das Kapitel 36 bündelt diese Querschnittsaufgabe. Unter Bezug auf die Prinzipien der Konferenz von Tiflis 1977 (UNESCO 1978) umfasst es folgende Programmbereiche:

  1. Neuausrichtung der Bildung auf eine nachhaltige Entwicklung
  2. Förderung der öffentlichen Bewusstseinsbildung
  3. Förderung der beruflichen Ausbildung

A Neuausrichtung der Bildung auf eine nachhaltige Entwicklung

Handlungsgrundlage

In der Agenda 21 werden Bildung/Erziehung als Prozess gesehen, „mit dessen Hilfe die Menschen als Einzelpersonen und die Gesellschaft als Ganzes ihr Potenzial voll ausschöpfen können“. Das bezieht sich nicht nur auf die formelle Bildung (z.B. in allgemein bildenden Schulen) sondern z.B. auch auf die öffentliche Bewusstseinsbildung (siehe Programmbereich B) und die informelle Bildung (Bundesumweltministerium 1992, S. 261).

Diese Formen der Bildung werden als „unabdingbare Voraussetzung für die Herbeiführung eines Bewußtseinswandels“ und als entscheidend „für die Schaffung eines ökologischen und eines ethischen Bewußtseins sowie von Werten und Einstellungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die mit einer nachhaltigen Entwicklung vertretbar sind“ angesehen. Schließlich wird vorgeschlagen, dass sich eine umwelt-/entwicklungsorientierte Bildung bzw. Erziehung nicht nur mit der Umwelt im herkömmlichen Sinne („mit der Dynamik der physikalischen/biologischen...Umwelt“), sondern auch mit der sozioökonomischen Umwelt und der menschlichen Entwicklung befassen sollte (ebd., S. 261).

Ziele

Basierend auf diesen Einschätzungen, werden folgende Ziele proklamiert (ebd., S. 261):

  1. Der Zugang zur Grunderziehung soll verbessert werden. Weltweit sollen „mindestens 80 Prozent der Mädchen und 80 Prozent der Jungen im Primarschulalter“ eine solche Grunderziehung „im Rahmen der formalen Schulbildung oder der nonformalen Bildung“ erhalten. Die Quote der Analphabeten unter den Erwachsenen soll gegenüber 1990 um wenigstens 50% reduziert werden. Dabei gilt es insbesondere, die Rückstände bei der Bildung der Frauen gegenüber den Männern auszugleichen.
  2. Weltweit soll möglichst rasch und in der größtmöglichen Breite ein Umwelt- und Entwicklungsbewusstsein entwickelt werden.
  3. Allen Bevölkerungsgruppen (auch allen Altersgruppen) sollte Zugang zur umwelt- und entwicklungsorientierten Bildung im Verbund mit Sozialerziehung ermöglicht werden.
  4. Umwelt- und Entwicklungskonzepte sollen in alle Bildungsprogramme integriert werden, insbesondere sollen auch Entscheidungsträger weitergebildet werden.

Maßnahmen

Zur Umsetzung dieser Ziele werden insgesamt 15 Maßnahmen mit verschiedenen Addressaten vorgeschlagen (ebd., S. 261-263).

Die Länder (deren Regierungen und Behörden) sollten z.B.

Die Vereinten Nationen

International sowie national sollte(n)

werden.

Instrumente zur Umsetzung

Die Kosten werden für die Jahre 1993-2000 auf jährlich 8-9 Mrd. US$ geschätzt. Einige konkrete Maßnahmen zur Absicherung bzw. Ergänzung dieser Finanzierung werden angeführt (ebd., S. 263-264).

B Förderung der öffentlichen Bewusstseinsbildung

Handlungsgrundlage

Es wird eingeschätzt, dass es aufgrund „ungenauer bzw. unzulänglicher Informationen“ noch immer an „Bewußtsein mit Hinblick auf die Wechselbeziehungen zwischen der Gesamtheit der anthropogenen Aktivitäten und der Umwelt“ mangelt. „Insbesondere in Entwicklungsländern fehlt es an entsprechenden Technologien und entsprechendem Sachverstand.“ (ebd., S. 264)

Ziele

Dementsprechend wird folgendes Ziel verfolgt (ebd., S. 264): „Förderung einer breitangelegten öffentlichen Bewußtseinsbildung“, die zu einer „Stärkung von Einstellungen, Wertvorstellungen und Handlungsweisen, die mit einer nachhaltigen Entwicklung vereinbar sind“, beiträgt. Dabei sollten Verantwortung und Durchführung jeweils auf der am besten geeigneten Ebene – insbesondere der lokalen – angesiedelt sein.

Maßnahmen

Die Maßnahmen (ebd., S. 264-265) zielen insbesondere darauf, dass die Länder (welche die Agenda 21 unterzeichnet haben und daher direkt angesprochen sind), in einem äußerst breiten Rahmen nach Bündnispartnern für die öffentliche Bewusstseinsbildung suchen. Generell wird angeregt, beratende Gremien zu stärken, die Abstimmung und Vernetzung zwischen den verschiedenen Akteuren zu fördern und die Öffentlichkeit an Diskussionen über umweltpolitische Maßnahmen und Bewertungen zu beteiligen. Bildungseinrichtungen in allen Sektoren sowie nichtstaatliche Organisationen werden ausdrücklich als potenzielle Partner genannt: Die Medien oder die Unterhaltungs- und Werbebranche sollen einbezogen werden, auch mit dem Ziel, „deren Erfahrungen mit der Beeinflussung von öffentlichen Verhaltens- und Verbrauchsmustern zu ergründen ... und von deren Methoden umfassenden Gebrauch“ zu machen. Moderne Kommunikationstechnologien mit hoher Breitenwirkung sollen genutzt werden. Die Länder sollen umweltverträgliche (Bildungs-)Angebote für Freizeit und Tourismus fördern, z.B. im Kooperation mit Museen, Zoos oder Nationalparken.

„Länder und das System der Vereinten Nationen sollen die Interaktion mit eingeborenen Bevölkerungsgruppen verstärken und diese gegebenenfalls (sich) in die Bewirtschaftung, Planung und Entwicklung ihrer örtlichen Umwelt einbeziehen.“ Traditionelles Wissen und traditionelle Formen der Weitergabe dieses Wissens, insbesondere in ländlichen Gebieten, sollen gefördert werden.

Das System der Vereinten Nationen soll u.a. seine Maßnahmen prüfen, seinen Aktionsradius vergrößern und systematische Erhebungen über den Erfolg von Bewusstseinsbildungsprogrammen durchführen. „UNICEF, UNESCO, das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) sowie nichtstaatliche Organisationen sollen unterstützende Programme zur Beteiligung von Jugendlichen und Kindern an Umwelt- und Entwicklungsfragen schaffen“. Männer und Frauen (und Familien) sollen für eine nachhaltige Entwicklung mobilisiert werden. „Das öffentliche Bewußtsein soll im Hinblick auf die Anwendung von Gewalt in der Gesellschaft geschärft werden.“

Instrumente zur Umsetzung

Für 1993-2000 werden Kosten in Höhe von durchschnittlich 1,2 Milliarden US$ pro Jahr veranschlagt (ebd., S. 265).

C Förderung der beruflichen Ausbildung

Handlungsgrundlage

Die berufliche Ausbildung wird als „eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung der menschlichen Ressourcen und für die Erleichterung des Übergangs in eine nachhaltige Welt“ angesehen (ebd., S. 265).

Ziele

Zu den darauf aufbauend proklamierten Zielen (ebd., S. 265-266) gehören u.a.:

Maßnahmen

Die Maßnahmen (ebd., S. 266-267) zielen u.a. auf:

Instrumente zur Umsetzung

Für den Zeitraum 1993-2000 wird mit Kosten von ca. 5 Mrd. US$ pro Jahr gerechnet.

Bewertung / Diskurs

Bildung (bzw. Erziehung, siehe unten) wird in der Agenda 21 als Möglichkeit zur Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung verstanden (deswegen im Teil IV – Möglichkeiten der Umsetzung – behandelt) und damit in eine Reihe neben Finanzressourcen bzw. Finanzierungsmechanismen (Kap. 33), internationale Rechtsinstrumente und -mechanismen (Kap. 39) oder die Wissenschaft (Kap. 35) gestellt.

Damit werden zwei verschiedene Seiten von Bildung angesprochen:

Das soll nachfolgend vertieft werden, da es m. E. für ein Verständnis der Herausforderung – und für berechtigte Abgrenzungen – essenziell ist.

Bildung als Recht des Menschen

Bildung ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass sich Menschen entfalten und am Prozess der Nachhaltigkeit partizipieren können. „Jeder hat das Recht auf Bildung”, heißt es in Artikel 26 (1) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Auch in den Milleniumszielen (vgl. Nachhaltige Entwicklung global) wird das Recht auf Bildung betont.

Wer unzureichend gebildet ist, hat in einer modernen Gesellschaft schlechte Chancen bei der individuellen Verwirklichung, im Berufsleben oder hinsichtlich der Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Agenda 21 fordert daher im Kapitel 36 (Bundesumweltministerium 1992, S. 261-267) u.a. einen generellen Zugang zur Grunderziehung im Rahmen der formalen Schulbildung oder nonformalen Bildung, eine Senkung der Analphabetenquote bei Erwachsenen um mindestens 50% gegenüber 1990 mit besonderer Berücksichtigung der Frauen, und räumt auch der beruflichen Ausbildung einen hohen Stellenwert ein. Es wäre verfehlt, die Umsetzung dieses Menschenrechts mit Verweis auf die allgemeine Schulpflicht in Deutschland als erfüllt anzusehen, denn auch im hoch entwickelten Deutschland hängen die Bildungschancen der Kinder ganz wesentlich von ihrer sozialen Herkunft ab (Kultusministerkonferenz 2002).

Bildung vs. Erziehung

Problematisch ist ferner, dass die pädagogischen Begriffe Bildung und Erziehung weitgehend undifferenziert nebeneinander gestellt werden; dies geht zu Lasten der Klarheit dieses Auftrages. Das ist beileibe keine Wortklauberei, vielmehr stehen diese Begriffe in der deutschen Debatte für unterschiedliche Konzepte, die zudem auch noch von verschiedenen Autoren unterschiedlich interpretiert werden, vgl. Exkurs „Lernen, Bildung und Erziehung“ (der englische Begriff „education“ umfasst hingegen den Bildungs- und den Erziehungsaspekt).

Exkurs: Lernen, Bildung und Erziehung

Der Begriff Lernen wird verwendet, um den Erwerb von Wissen und Können, von festgelegten Auffassungen, Methoden und Regeln zu beschreiben. Lernen dient dazu, bekannte und sich wiederholende Situationen zu bewältigen und wirkt somit system- und lebensformerhaltend. So verstandenes Lernen wurde vom Club of Rome (1979, S. 30) als „tradiertes Lernen“ bezeichnet. Dieses Lernen ist auch heute noch erforderlich, in diesem Sinne erlernen wir z.B. eine Sprache, die Grundrechenarten oder das Verhalten im Straßenverkehr. Angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – angesichts ständig neuer und komplizierter Situationen, in denen sich die Menschheit befindet – reicht es jedoch nicht mehr aus (siehe auch Exkurs: Das menschliche Dilemma und die Grenzen des Lernens).

Erziehung ist ziel- und zweckorientiert. Die Heranwachsenden sollen die Zwecke der Gesellschaft kennen lernen und an ihnen tätig interessiert werden (Dewey 1993). Erziehungsziele sind dabei kulturrelevant und im Laufe der Zeit veränderbar. Hinter den Zielen stehen Normen und Werte, z.B. die aus dem Alten Testament überlieferten 10 Gebote, die Menschenrechte oder evtl. künftig das Leitbild der Nachhaltigkeit. Die Spannbreite der Erziehungskonzepte reicht vom „herstellenden Machen“, bei dem die Erzieher die zu Erziehenden formen wie ein Handwerker sein Werkstück (z.B. Durkheim) bis hin zur Vorstellung Rousseaus, nach dem der Erzieher – wie ein Gärtner – das eigene Wachsen des Kindes begleitet und schützt (Marotzki 2003, S. 16-19).

Bildung bezieht sich auf den Grad der Reflexivität des Individuums (die Fähigkeit, sich selbst „über die Schulter zu sehen“) und auf die Flexibilität in den Selbst- und Weltbildern (die Fähigkeit, sich selbst und die Welt auch mit anderen Augen zu sehen). Bildung zielt daher gerade darauf, unbekannte und offene Situationen zu meistern (Marotzki 2003, S. 22-29). Auch diese pädagogische Basiskategorie hat verschiedene Interpretationen erfahren.

  • Wilhelm v. Humboldt sieht Bildung – in Opposition zum Erziehungsbild der Aufklärung – als Recht und Bestimmung des Menschen. „Der wahre Zweck des Menschen“ ist danach „die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ (Humboldt 1792/1980, S. 64).
  • Nach Klafki (1985) ist Bildung differenziertes gesellschaftliches Problembewusstsein, sie befähigt den Menschen zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarisation.

Der Begriff Erziehen fokussiert damit auf die Tätigkeit des Erziehers. Die Begriffe Lernen und Bildung fokussieren auf die Tätigkeiten des Lernenden bzw. des sich Bildenden. Bildung kann (wie auch der Aufbau von Kompetenzen) angeregt, ermöglicht und gefördert, nicht aber didaktisch „bewirkt“ werden. (vgl. Marotzki 2003, S. 24)

Im Gegensatz zu noch älteren Vorstellungen vom Lernen als Wissenstransfer, verstanden Piaget (1896-1980) oder auch klassische konstruktivistische Ansätze (in den 1970er bis 1980er Jahren) Bildung primär als Selbstbildung, welche schon im Kindesalter vom Individuum selbst „ausgelöst und gesteuert wird und lediglich eine lernanregende und die kindliche Entwicklung stimulierende Umgebung benötigt.“ (Gisbert 2004, S. 19) Diese Position gilt inzwischen als überholt, statt dessen wird in neueren Bildungskonzeptionen „Bildung als soziale Ko-Konstruktion definiert, d.h. als sozialer Prozess, der im Kontext stattfindet und an dem Kinder, Eltern, Fachkräfte und andere Erwachsene aktiv beteiligt sind, und dies bereits ab der Geburt des Kindes.“ (ebd.)

 

Bildung für nachhaltige Entwicklung“ würde damit für ein Konzept stehen, das Menschen befähigen will, ihre eigenen Potenziale in einer Welt zu entfalten, die von den in der Agenda 21 beschriebenen Problemen und Herausforderungen geprägt ist. Ein Konzept der „Erziehung zur Nachhaltigkeit“ würde hingegen stärker die Interessen der Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen betonen. – Nachfolgend wird allerdings weiterhin durchweg der Begriff „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ verwendet, der sich im deutschen Sprachgebrauch ganz überwiegend durchgesetzt hat, unabhängig davon, ob nun der Bildungs- oder der Erziehungsaspekt im Vordergrund steht.

Exkurs: Das menschliche Dilemma und Grenzen des Lernens

Das menschliche Dilemma ist die Dichotomie (die Diskrepanz, das Auseinanderklaffen) zwischen einer wachsenden, selbst verschuldeten Komplexität aller Verhältnisse und der nur schleppenden Entwicklung unserer eigenen Fähigkeiten. So beschrieb der Club of Rome bereits 1979 die existenzielle Herausforderung, der Lehrende und Lernende in modernen Gesellschaften gegenüber stehen.

Fast 30 Jahre danach ist diese Herausforderung nicht kleiner geworden (vgl. Rieckmann 2010, S. 40). Die Komplexität der Lebensverhältnisse wächst weiterhin – und immer schneller –, der Trend zur Individualisierung und Pluralisierung hält an. In unserer modernen Gesellschaft sind drei Typen von Krisen auszumachen (Heitmeyer 1997), welche die Rahmenbedingungen für Bildung (nachfolgend wird auf die schulische Bildung fokussiert) drastisch verändern:

Strukturkrisen: Die Gesellschaft bekommt die Folgen des Strukturwandels nicht in den Griff. So ist z.B. der zukunftsfähige Umbau des deutschen Arbeitsmarktes noch längst nicht gelöst, nach Jahren mit hoher Arbeitslosigkeit ist nun eher der Fachkräftemangel ein Problem. Diese Krisen treffen die Schulbildung z.B. dann, wenn

  • die öffentliche Hand nicht die Mittel bereitstellt, die wünschenswert wären,
  • in ganzen Landstrichen die Schülerzahlen drastisch schrumpfen (was auf den demographischen Wandel als eine andere Strukturkrise verweist) und Schulen geschlossen werden müssen (wie in den neuen Bundesländern) oder
  • Schüler sich fragen, warum sich angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt das Lernen für sie überhaupt lohnen sollte.

Regulationskrisen: Werte und Normen unterliegen der Pluralisierung. Das eröffnet einerseits dem einzelnen Menschen ungeahnte Möglichkeiten der eigenen Entfaltung. Aber der Kernbereich unstrittiger Normen in der Gesellschaft sinkt, ebenso die Bereitschaft zu ihrer Anerkennung. Der Bereich strittiger Normen wächst hingegen. Das spiegelt sich ganz unmittelbar auch in Schulen wider, wo es keine homogenen Klassenverbände mehr gibt, sondern Ansammlungen von Individuen aus ganz unterschiedlichen Milieus, mit ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen, Einstellungen, Werten und Interessen und wo ein Lernarrangement, das in einer Klasse „funktioniert“, in der nächsten Klasse scheitern kann.

Kohäsionskrisen betreffen die soziale Anerkennung, Zugehörigkeit, Bindung. Der Gesellschaft kommen die Kernbereiche der Vergemeinschaftung abhanden. Autorität bzw. Anerkennung bekommt ein Lehrer heute nicht mehr durch sein Amt – er muss sich diese in der täglichen Auseinandersetzung mit den Schülern hart erarbeiten. Gleiches gilt für den Aufbau eines Klassenverbandes oder für die Stellung jedes einzelnen Schülers darin.

Die Funktionalität der herkömmlichen gesellschaftlichen Steuerungsmechanismen, die auf zentraler Planung und Kontrolle der Ausführung basieren, sinkt. Der einzelne Mensch muss immer stärker Verantwortung übernehmen, Probleme definieren und Positionen beziehen. Dies gilt heute nicht mehr nur für die „Führungseliten“, die Verantwortung in Wirtschaft oder Gesellschaft übernehmen, sondern für jeden Menschen auch im Privatleben, bei der Suche nach dem eigenen Lebenskonzept in einer pluralen Gesellschaft, die keine eindeutigen Vorgaben und Orientierungen vermittelt.

In einer hoch komplexen und hoch dynamischen Gesellschaft reicht es daher nicht mehr aus, sich während des Schulbesuchs oder während der Ausbildung einen Vorrat an Sachwissen anzueignen. Der Umgang mit Komplexität und Unsicherheit wird zu einem wesentlichen Ziel – und damit ist das Konzept „Bildung“ gefragt (vgl. auch Rieckmann 2010, S. 40ff).

Auch weil Sachwissen in vielen Lebensbereichen heutzutage schnell veraltet und Sachinformationen in zunehmender Fülle zur Verfügung stehen, verliert der reine Wissenserwerb an Bedeutung. Es wird zunehmend wichtiger, ein Leben lang zu lernen und die dafür notwendigen lernmethodischen Kompetenzen zu entwickeln (vgl. Gisbert 2004).

 

Bildung als Instrument?

In mehreren Passagen der Agenda 21 (z.B. Kap. 36.3 sowie 36.8, 36.9) wird ein Zusammenhang zwischen Bildung (Erziehung, öffentlicher Bewusstseinsbildung, Information), Bewusstsein und Verhaltensweisen postuliert. Derartige Kausalketten mögen auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Dennoch muss vor der Annahme gewarnt werden, Bildung führe zwangsläufig zu einem vorab intendierten Bewusstsein, dieses würde sich zwangsläufig in einem „bewussten“ Verhalten niederschlagen und somit ließe sich Bildung als Instrument einsetzen, um eine nachhaltige Gesellschaft zu schaffen.

Die Möglichkeiten, mit pädagogischen Mitteln konkretes Alltagsverhalten im Sinne der Nachhaltigkeit oder anderer politischer Ideen zu beeinflussen, sind eher gering. Umweltbezogenes Wissen, Einstellungen und Verhalten korrelieren kaum miteinander (Grunenberg/Kuckartz 2005). Bildungsexterne Faktoren beeinflussen das Handeln insgesamt wesentlich mehr, als Bildung es kann (vgl. Schahn 1997, S.34f, Preuss 1997, S.63f, Burchardt 1996). Zu diesen Faktoren gehören z.B.:

Wippermann et.al (2009, S. 9) können anhand einer 2008 durchgeführten repräsentativen Befragung der bundesdeutschen Bevölkerung nachweisen, dass dem Umwelt- und Klimaschutz in den sozialen Milieus der Etablierten, der Postmateriellen und der Konservativen die höchste Bedeutung beigemessen wird. Aber: „Am wenigsten umweltbelastend verhalten sich die traditionellen Milieus... aufgrund ihrer ausgeprägten Orientierung an Sparsamkeit und Bescheidenheit“ – diese können sich „umweltschädigende Anschaffungen und Verhaltensweisen“ oftmals schlichtweg nicht leisten.

Bildung als Instrument für die Umformung des Einzelnen im Interesse politischer Ideen zu verwenden, wäre zudem auch fragwürdig, weil damit die Grenzen zur Indoktrination überschritten würden. Bereits in der Geschichte der Umweltbildung gab es Stimmen, die sich gegen eine Instrumentalisierung wandten (vgl. Auf dem Weg zur Nachhaltigkeitsidee). Im aktuellen Diskurs um die Bildung für nachhaltige Entwicklung warnt z.B. Apel (2005) davor, „der Bildung Aufgaben zuzumuten, die die Politik gerade nicht lösen kann – oder will“. Daher sollte eindeutig zwischen „einem Engagement für eine nachhaltige Gesellschaftsentwicklung... was ein originär politischer Prozess ist“ und dem pädagogischen Bemühen um eine BNE getrennt werden (vgl. auch Dieckmann/Paulsen 2003, S. 13, de Haan et. al 2008, S.123 und Rieckmann 2010, S. 9). – Das schließt nicht aus, dass aus der Bildung heraus auch Forderungen an die Politik gestellt werden können (siehe folgendes Beispiel) und dass Know-how der Bildung auch in den politischen Entwicklungsprozessen benötigt wird.

Schüler in Düsseldorf hatten sich im Rahmen des Nachhaltigkeitsaudits (vgl. Bereich Nachaltigkeitsaudit auf umweltschulen.de) mit Mobilität und Verkehr befasst und dabei herausgefunden, dass ihre Lehrer unter bestimmten Umständen kostengünstiger Bus und Bahn fahren können als sie selbst. Daraufhin wurde nicht versucht, die Schüler zu agitieren, dass sie dennoch in möglichst großem Umfang den öffentlichen Nahverkehr nutzen mögen. Vielmehr konnte das Problem über die Strukturen des Lokale-Agenda-Prozesses an die Politik gegeben werden. Dies hat mit dazu beigetragen, dass die Stadt Düsseldorf ab 2002 ein besonders günstiges Schülerticket, das sogenannte „Schoko-Ticket“ eingeführt hat. (Verkehrsverbund Rhein-Ruhr 2007 sowie Hulda-Pankok-Gesamtschule 2002)

Bildungsauftrag der Agenda 21 operationalisieren

Die Agenda 21 enthält somit keinesfalls ein fertiges Bildungskonzept. Sie ist auch als Lehrmaterial kaum geeignet. Die Agenda 21 ist ein politisches Dokument, der darin enthaltene Bildungsauftrag muss operationalisiert werden, wie die Aufträge der anderen Kapitel auch.

Dabei ist die Operationalisierung ein Prozess, in dem verschiedene Akteure mit jeweils eigenen Auffassungen und Interessen nach Definitionen, Kriterien und geeigneten Maßnahmen suchen. Es kann daher nur mehr oder weniger gut begründete Ausformungen des Konzepts, nicht aber die eine objektiv richtige Definition von BNE geben.

Einige der Lesarten des Bildungsauftrages der Agenda 21, die sich bisher herauskristallisiert haben, werden in der folgenden Tabelle vorgestellt.

Tabelle: Lesarten des Bildungsauftrages der Agenda 21
Lesart Details Quellen / Verweise
Bildung (Grundausbildung, berufliche Bildung) für alle Bildung ist Voraussetzung für eine (einigermaßen) selbstbestimmte Teilhabe der Menschen am gesellschaftlichen Leben; Bildung als Menschenrecht; Zugang zu Bildung als ein Aspekt der Gerechtigkeit Agenda 21, Kap. 36 A+C

Milleniumsentwicklungsziel Nr. 2

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Öffentliche Bewusstseinsbildung Der Erziehungsaspekt überwiegt hier; Problem ist die schwache Kausalität Bildung/Erziehung – Bewusstsein – Handeln Agenda 21, Kap. 36 B
Politische Bildung Bürger haben das Recht auf politische Partizipation, z.B. in Umweltfragen. Sie sollen befähigt werden, dieses Recht auch wahrzunehmen. Lernen als gesellschaftsverändernde Praxis. Prinzip 10 der Rio-Deklaration

Aarhus-Konvention über die Zugänglichkeit von Umweltinformationen

Empowerment-Ansatz von VENRO (2005, S. 8-10)

Lokale Agenda 21, kommunale Klimaschutzprozesse
Synthese aus Umweltbildung, Globalem Lernen und weiteren Ansätzen BNE vereinigt Ansätze der Umweltbildung, entwicklungspolitischen Bildung, des interkulturellen Lernens, der Friedenserziehung, der Konsumerziehung, der Gesundheitserziehung und der politischen Bildung Positionspapier von ANU/DGU/GbU 1998

Deutscher Bundestag 2005, S. 3

einzelne Sets in den BLK-Modellprogrammen „21“ und „Transfer 21“
Grundlegende Anforderung an Bildung im 21. Jahrhundert Bildung soll Schlüsselkompetenzen vermitteln, die benötigt werden, um die Anforderungen des 21. Jahrhunderts zu bestehen, welche ganz wesentlich von einer nachhaltigen Entwicklung bestimmt sind. Konzept der Gestaltungskompetenzen in den BLK-Modellprogrammen „21“ und „Transfer 21“

Kompetenzkonzept der OECD (2005)

 

„Bedeutung und Umfang von Begriffen stehen in einem gegenläufigen Verhältnis zueinander.“ (Ott/Döring 2008, S. 20) Hier geht es darum, den Begriff der BNE mit Bedeutung zu füllen, es sollte daher gerechtfertigt sein, schon an dieser Stelle das Spektrum der Lesarten einzugrenzen. „Bildung für alle“ ist eine berechtigte Forderung – aber gleichwohl wenig geeignet, zur Definition von BNE beizutragen. „Öffentliche Bewusstseinsbildung“ hat derart geringe Überschneidungen mit dem oben vorgestellten Bildungsbegriff, dass sie ebenfalls wenig zur Definition von BNE beitragen kann. Beide Lesarten werden daher nachfolgend nicht weiter berücksichtigt.

 

Der Arbeitsbereich "Agenda 21 und Bildung für nachhaltige Entwicklung" auf umweltschulen.de entstand 2006-2014 in Kooperation mit dem Fernstudiengang Umwelt&Bildung der Universität Rostock; dem heutigen Fernstudiengang Bildung und Nachhaltigkeit.