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Unesco-Dekade

VR China: Die große Flut am Yangzi (1998)

von Eva Sternfeld (Beijing)

Im noch halbwegs trockenen Beijing mußten sich die Regierenden im Sommer 1998 wie in die Zange genommen fühlen. Im Süden rollte seit Ende Juli eine Flutwelle des Yangzi nach der anderen, immer weniger Widerstand durch die durchweichten Deiche findend, durch Mittelchina. Der "lange Fluß", eigentlich die "Lebensader Chinas", brachte Tausenden den Tod und nahm Millionen die bescheidene Existenz, die sie sich seiner fruchtbaren Ebene hatten aufbauen können. Doch als sei das allein nicht Katastrophe genug, hielt es seit Mitte August im Nordosten des Landes auch den Songhua-Fluß und seinen Nebenfluß Nen nicht mehr in ihren Betten. Verzweifelt versuchten Hunderttausende die Industriestädte Harbin und Daqing zu schützen. Überflutet sind nun auch Chinas wichtigste Ölfelder, die einst als Synonym für den Aufbruch der Volksrepublik in die Industrialisierung standen und deren Paralysierung auch heute noch die chinesische Wirtschaft ins Mark trifft.

Noch nie in der Geschichte der Volksrepublik China haben Überschwemmungen solch verheerende Verluste gefordert. Mindestens 14 Mio. Menschen wurden obdachlos, die Sachschäden werden auf 40 Mrd. DM geschätzt, die Toten wagte zunächst keiner zu zählen. Über das wahre Ausmaß der Katastrophe wird man wohl, wenn überhaupt, erst zu einem späteren Zeitpunkt erfahren. Über den verzweifelten und allzu oft vergeblichen Versuch von Armeesoldaten und Zivilisten, die vielerorts in Ermangelung von geeignetem Gerät und Material mit bloßen Händen und Säcken gefüllt mit Sojabohnen und Reis versuchten, die schwachen Deiche gegen die Sintflut zu halten, berichteten die chinesischen Medien wortkarg. Kaum eine Erwähnung fanden die Vorgänge in denjenigen Landkreisen, in denen Deiche gesprengt werden mußten und Hunderttausende Haus und Land verloren, um wenigstens die 7-Millionenstadt Wuhan vor Schlimmeren zu bewahren. In einigen Landkreisen, meldete die Nachrichtenagentur Xinhua, habe die Armee die Bevölkerung erst von der Evakuierung "überzeugen" müssen. Man mag sich vorstellen, wie das wohl ausgesehen hat. Ausländische Korrespondenten ließ man da lieber nicht in die Katastrophengebiete und beschränkte sich in der eigenen Berichterstattung auf den heroischen Einsatz der Volksarmee und die Präsenz einiger Spitzenpolitiker, die sich vor Ort über die Rettungsmaßnahmen informierten.

Die Nachrichtensperre kommt nicht von ungefähr. Die Launen des Monsuns fordern die Menschen in den dichtbesiedelten Flußebenen Chinas seit Jahrtausenden heraus und von jeher mußten sich die Herrschenden auch an der Effizienz des staatlich organisierten Hochwasserschutzes messen lassen. Mehrten sich die Naturkatastrophen und Deichbrüche, so nahm die Bevölkerung dies als ein Zeichen der Schwäche der Zentralregierung, die auf einen nahen Dynastiewechsel deuteten. Bisher konnte die Regierung der Volksrepublik China auf dem Gebiet Wasserkontrolle auf eine günstige Bilanz verweisen. Ungeheure Summen sind seit den 50er Jahren in den Wasserbau investiert worden. Mit einigem Erfolg, denn nie in der chinesischen Geschichte konnten in den Dürregebieten Nordchinas bessere Ernten eingefahren und nie fühlten sich die Menschen in den Flußtälern besser vor Hochwasser geschützt. Dies hat der KP gerade auch die Unterstützung der ländlichen Bevölkerung gesichert. Nach der letzten großen Yangzi-Flut im Jahr 1954 war erheblich in den Ausbau des jahrhundertealten tausend Kilometer lange Hauptdeichsystem investiert worden. In gebührendem Abstand säumen heute doppelte, teilweise dreifache Deiche den Fluß, die im Lauf der Zeit auf teilweise bis zu 20 Meter erhöht worden sind. 44 Jahre haben die Hauptdeiche der ungeheuren Gewalt des Flusses getrotzt, um so größer der Schock, als einige Abschnitte während der diesjährigen Flut wie nichts brachen.

Gleichwohl hat sich die diesjährige Katastrophe schon seit längerem angekündigt und läßt vermuten, daß aus früheren Zeichen keine wirkungsvollen Konsequenzen gezogen wurden. Mindestens fünf große Überschwemmungen, jeweils mit dem Prädikat "Jahrhundertflut" versehen, haben den Mittellauf des Yangzi in den 90er Jahren bereits heimgesucht. 1991 traten zehn Seitenarme des Yangzi und des Huaihe über die Ufer, 280 Wasserreservoire überfluteten das Umland, 2.000 Menschen fanden nach offiziellen Angaben den Tod, 20 Mio. ha Ackerland waren überschwemmt, ganze Städte waren tagelang von der Versorgung abgeschlossen, die volkswirtschaftlichen Schäden wurden damals auf 7 Mrd. Yuan geschätzt. 1.400 Überschwemmungsopfer und Sachschäden in Höhe von 6 Mrd. US$ wurden 1994 beklagt. 1995 waren drei Millionen Menschen allein in der Provinz Hubei von den Fluten eingeschlossen, eine Million Häuser zerstört, die Zahl der Toten wurde auf 1.200 beziffert, Wuhan verzeichnete den höchsten Wasserstand des Yangzi seit 125 Jahren. 1996 befand sich Wuhan erneut in höchster Gefahr, 28,66 Meter, der höchste Stand des Yangzi seit 1954 wurde gemeldet, auch damals bereits die Sprengung von Deichen in den Landkreisen oberhalb der Industriestadt in Erwägung gezogen. Die Schadensbilanz 1996 belief sich auf 1.600 Todesopfer, vier Millionen Menschen waren damals von der Außenwelt abgeschnitten, zwei Millionen obdachlos, die Sachschäden wurden auf 11,3 Mrd. US $ beziffert.

Seit jeher lebt das betroffene Gebiet mit dem Monsun, der periodisch, wenn auch unberechenbar, ungeheure Naturgewalten freisetzt. Innerhalb weniger Tage können während der Regenzeit im Juli/August weitaus größere Niederschlagsmengen niedergehen als in Deutschland während des ganzen Jahres. 85.000 Kubikmeter in der Sekunde, etwa das 40 fache des Rheinabflusses, kann die Flutwelle dann bei Wuhan erreichen. Selbst die Niederschläge im Sommer 1998, die tagelang über 100 mm pro Tag brachten, bewegten sich dabei noch im Rahmen dessen, was den jahrhundertealten Wetteraufzeichnungen zufolge möglich und mit dem zu rechnen ist.

Und doch sind die häufigen und von mal zu mal verlustreicheren Überschwemmungen im letzten Jahrzehnt zu einem Gutteil menschengemacht. Die betroffene Yangzi-Ebene ist seit Jahrhunderten eines der ökonomischen Zentren und gehört zu den dichtbesiedelsten Regionen Chinas. Heute leben hier mehr als doppelt so viel Menschen wie vor 40 Jahren, zwischen 400 und 1.000 Menschen werden auf einem Quadratkilometer gezählt. Da wird jeder Flecken Land äußerst intensiv genutzt, auch solches, das zwischen den Deichen des Yangzi eigentlich als Ausgleichs-Polder dienen sollte. Immer mehr Flächen werden versiegelt, immer mehr ausgewiesene Rückhaltegebiete gehen für Baumaßnahmen verloren. Zwischen 1991 und 1995 hat sich Zahl der offiziell ausgewiesenen Rückhaltegebiete von 45.900 auf 33.000 verringert, über 12.000 Flächen, die nun fehlen um Hochwasser ohne größere Schäden abzuleiten.

Zudem hat der Landhunger auch zahlreiche Seen in der Ebene verschluckt, die ehedem Hochwasser hatten aufnehmen können. Allein in der in diesem Jahr schwer betroffenen Provinz Hubei, im Volksmund auch "Land der tausend Seen" genannt, sind seit den 50er Jahren von 1.332 Seen an die 600 von der Landkarte verschwunden. Und die größten Binnenseen Chinas, der Poyang-See (3.500 qkm) und der Dongting-See, an denen sich der Yangzi vorbei schlängelt und deren Anwohner in Hochwasserzeiten äußerst gefährdet sind, haben im Lauf der Geschichte erheblich an Fläche eingebüßt. Der Dongting-See etwa, so läßt sich aus historischen Geographiebüchern rekonstruieren, erstreckte sich vor der Ming-Zeit (1368-1644) noch auf einer Fläche von 14.000 qkm, bis 1825 war er auf 6.000 qkm geschrumpft, 1949 nahm er noch 4.350 qkm ein und heute höchstens noch 2.500 qkm. Im gleichen Zeitraum vermerken die Annalen einen deutlichen Anstieg der Überschwemmungen. Wurde vor der Ming-Zeit etwa alle 83 Jahre ein größeres Hochwasser registriert, so wurden zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert etwa alle 20 Jahre Überschwemmungen berichtet, ab dem 19. Jahrhundert war circa alle fünf Jahre mit einer Flutkatastrophe zu rechnen, doch im letzten Jahrzehnt hat sich der Abstand auf zwei bis drei Jahre verkürzt.

Die Seen haben ihre Fläche nicht nur durch Eindeichungen und Landnahme eingebüßt, der Yangzi verschüttet sich auch mit den Sedimenten, die er mitführt, selbst seine Ausweichgebiete. 530 Millionen Tonnen Schlamm und Geröll wälzt der gewaltige Strom im Jahr mit sich und je mehr Wälder in den Gebirgen Sichuans, Yunnans und Tibets am Oberlauf des Flusses den Motorsägen zum Opfer fallen, um so mehr nimmt die mörderische Fracht zu. Ein erst 1996 zwischen der Yunnaner und der tibetischen Forstverwaltung geschlossener Kooperationsvertrag zur gemeinsamen Nutzung der Forstgebiete besiegelte den weiteren Kahlschlag der Waldgebiete am Jinsha-Fluß, dem Oberlauf des Yangzi. Halten keine Wurzeln mehr das Erdreich, wenn die gewaltigen Gewitterregen der Monsunzeit niederprasseln, dann wird es zu Tal gespült und in die Ebene geschwemmt. Etwa 40% des gesamten Yangzi-Einzugsgebiets, so wird geschätzt, sind von Erosion betroffen.

Auch die verheerenden Zerstörungen, die die Überschwemmungen in dem zweiten diesjährigen Katastrophengebiet in Nordost-China angerichtet haben, sind vermutlich dem dramatischen Rückgang der großen Waldbestände an der sibirischen Grenze geschuldet. So entspringt der Nen-Fluß, der ganze Ortschaften mit sich riß und die Ölfelder von Daqing überspülte, im Daxinganling-Gebirge. Dort zerstörten 1987 durch Fahrlässigkeit ausgelöste Waldbrände über 800.000 ha Primärwälder. Jährlich geht auch dort durch genehmigten und ungenehmigten Holzeinschlag mehr Waldfläche verloren als wieder aufgeforstet wird, und ist damit auch als Rückhalt für Niederschläge nicht mehr verfügbar.

Ob Chinas derzeitiges Renommierprojekt, die Baustelle des gigantischen Staudamms in den drei Yangzi-Schluchten, die Flutkatastrophe unbeschadet überstanden hat, darüber schwiegen sich die chinesischen Medien aus. Soviel Hoffnung hängt an diesem Bau. Seit Jahren verspricht die chinesische Regierung ihrer Bevölkerung, die für dieses Projekt erhebliche Opfer bringen muß, daß es ab seiner voraussichtlichen Inbetriebnahme im Jahr 2009 der derzeit von Überschwemmungen so schwer gebeutelte Ebene bei Wuhan endlich Sicherheit bieten werde. Doch bis dahin gehen noch mehr als zehn Jahre ins Land, d.h. rein statistisch ist es möglich, daß bis dahin fünf weitere verlustreiche Überschwemmungen durch die Ebene rollen werden. Wie groß der Effekt des Riesenstaudamms auf die Hochwasserkontrolle in der Ebene dann tatsächlich sein wird, darüber gehen die Meinungen der Experten sehr weit auseinander. Das Drei-Schluchten-Projekt wird etwa die Hälfte der Yangzi-Fluten regulieren können. Als gesichert gilt, daß der Damm, einen Großteil der Schlammassen zurückhalten wird und damit die fortschreitende Verlandung des Dongting-Sees und damit den Rückgang seiner Speicherfunktion aufhalten und damit zumindest eine weiteren Zuspitzung der Situation verhindern könnte. Jedoch hat das Riesenprojekt keinen Einfluß auf die Regulierung der großen Seitenflüsse des Yangzi, die wie z.B. der Hanshui bei Wuhan in der Ebene zu ihm stoßen. Daher hätten die Flutkatastrophen von 1991, 1996 und 1998, die die 7-Millionenstadt unmittelbar bedrohten, auch mit Drei-Schluchten-Staudamm erhebliche Verluste verursacht. Auch wird der Drei-Schluchten-Staudamm seinen Beitrag zur Hochwasserkontrolle möglicherweise nicht voll ausspielen können, wenn nämlich bei fortschreitender Erosion in den Oberlaufgebieten die Sedimentfracht des Yangzi noch weiter zunimmt. Dann nämlich wird man, um eine vorzeitige Verlandung des Stausees zu verhindern, während der Regenzeit (wenn die Schlammfrachten am größten sind) mehr Wasser ablassen müssen als vorgesehen.

Während der chinesische Staat einen erhebliche Ressourcen in das Renommierprojekt "Drei-Schluchten" investiert, hat er in den 90er Jahren immer mehr aus der Finanzierung des Unterhalts und der Instandhaltung der kleineren Wasserbauten in den ländlichen Gebieten zurückgezogen und die Verantwortung an die lokalen Behörden übertragen. Die amerikanische Politologin Jennifer Turner hat dies für mehrere Landkreise in der Provinz Zhejiang nachgewiesen. Kam dort die Zentralregierung 1989 dort noch für 65% der Investitionen in den Wasserbau auf, so war sie 1994 gerade noch zu einem Viertel daran beteiligt. Die Hochwasserkatastrophen der 90er Jahre mögen damit auch zu einem Gutteil der abrupt durchgesetzten Dezentralisierung und den seltsamen Blüten, die die sozialistische Marktwirtschaft zuweilen in chinesischen Landkreisen treibt, geschuldet sein. Während die staatlichen Gelder vor allem in Großprojekte und in den Wasserbau der armen Binnenprovinzen flossen, rief man den lokalen Wasserbaubehörden der reicheren Provinzen zu "springt ins Meer", d.h. gründet Unternehmungen, um euren Wasserbau selbst zu finanzieren. Nachdem ländliche Wasserbaubehörden in den 80er Jahren zunächst den Weg ins Unternehmertum eher schüchtern mit der Fischzucht in den von ihnen verwalteten Stauseen aufgenommen hatten, kam das Geschäft nach Deng Xiaopings legendärer Südreise und seiner Ermunterung "reich werden ist ruhmvoll" ab 1992 erst so richtig in Schwung. In den von Turner untersuchten Landkreisen betrieben Wasserämter unter anderem Diskotheken, Hotels, Restaurants, Friseursalons, Obstplantagen, Maschinenbaubetriebe und Zementfabriken. In einem Landkreis managten 50 Angestellte des örtlichen Wasseramts 46 verschiedene Unternehmungen. Mit einigem Erfolg: Sogenannte Nebenerwerbsbetriebe geben der ländlichen Bevölkerung Arbeit, sie bessern die kargen Gehälter der Angestellten der Behörde auf, die ansonsten längst das Weite gesucht hätten und werfen sogar noch genug Profit ab, um weitere Unternehmen zu gründen. Darüber wurde aber offenbar bei allem Geschäftseifer die eigentliche Aufgabe der Wasserämter fast vollständig aus den Augen verloren. In allen von ihr untersuchten Landkreisen fand Turner die Wasserbauten, insbesondere auch Deiche, in einem erbärmlich vernachlässigten Zustand. Es ist leider sehr gut vorstellbar, daß die Untersuchung Symptome aufzeigt, an denen der Wasserbau in den ländlichen Gebieten Chinas vielerorts krankt.